Buchvorstellung: Die Schuld des Tages an die Nacht

Yasmina Khadra
Die Schuld des Tages an die Nacht

Nach einem halben Jahrhundert trifft Jonas anlässlich einer Beerdigung noch einmal seine Jugendfreunde und blickt als alter Mann zurück auf sein Leben und die bewegte Geschichte seiner Heimat Algerien. Dabei lässt er die 30er bis 60er Jahre des letzten Jahrhunderts vor den Augen des Lesers Revue passieren.

Unter dem arabischen Namen Younes wird er auf der Nachtseite des Schicksals geboren und erlebt als zehnjähriger Junge, wie sein Vater trotz unerschöpflicher Arbeitsleistung all seinen Grund und Boden verliert.

Younes kommt zu seinem Onkel, einem wohlhabenden Apotheker, der in Rio Saldo lebt und ihn adoptiert. Aus Younes wird Jonas. Hier im französischen Teil der Stadt erlebt er eine unbeschwerte Jugend. All seine Freunde sind Christen oder Juden, er denkt und lebt wie sie, doch tief in seinem Herzen fühlt er wie ein Muslim. Wem gehört sein Land? Und wohin gehört er? Das sind Fragen,
die Jonas sein Leben lang begleiten. Und er lernt Emilie kennen, eine schöne Französin, die die Liebe seines Lebens wird. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges beginnt das Glück zu bröckeln. Der Algerienkrieg beendet dann endgültig das sorglose Leben. Jonas alias Younes steht zwischen den Fronten und kann sich für keine entscheiden.

Schließlich endet alles damit, dass die Gruppe von unzertrennlichen Freunden in alle Himmelsrichtungen
zersprengt wird und Jonas seine große Liebe aus den Augen verliert. Erst wenn der Erzähler Jahrzehnte später an ihrem Grab steht, wird sich der Bogen von Leid und Liebe schließen.
Es ist die Sehnsucht dieser beiden Menschen, in der sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg das schwierige Verhältnis von Orient und Okzident spiegelt. Bis heute fügen beide Kulturen einander viel Leid zu und ringen dennoch verzweifelt um Versöhnung. Dass sie möglich ist, zeigt Yasmina Khadras ebenso einfühlsamer wie leidenschaftlicher Roman auf unvergessliche poetische Weise. Es ist ein Buch, das einen in den Sog der Geschichte zu ziehen vermag und das man erst aus der Hand legen
kann, wenn man am versöhnlichen Ende der 400 Seiten angelangt ist. Ausgezeichnet mit dem Prix France Télévision, dem wichtigsten Leserpreis Frankreichs.

Ullstein-Verlag, 978-3-550-08790-5, 19,95 €
Claudia Hintermeier, Literaturkreis Rothenburg